von Johannes Hartmann (31. August 2007)
Migranten sind die hauptsächlichen Verlierer unseres Bildungssystems. Die Bildung entscheidet mehr denn je über Beruf und Zukunftschancen
Ein Hinweis Vorab:
Diese Zusammenfassung soll weder den Lehrerberuf diskreditieren noch sonstige hier angesprochene Personengruppen. Sie erhebt auch nicht den Anspruch einer wissenschaftlichen Arbeit. Es ist eine Zusammenfassung, die ich aus der Lektüre verschiedener Forschungsansätze und meinen eigenen Erfahrungen heraus geschrieben habe als Diskussionsbeitrag zur Frage, wie das System der dreigliedrigen Schule mit Jahrgangsklassen momentan im Bezug auf Jugendliche mit Migrationshintergrund funktioniert. Dabei habe ich ganz bewusst nur die Rolle der Politik, des Schulsystems und der Lehrer angesprochen, denn hier sitzen die Experten, die für das Bildungsangebot zuständig sind.
Das unbewusste Repertoire gesellschaftlicher Rollen entscheidet
In seinem Buch „Wir alle spielen Theater“ (1, S. 39 u.a.) geht Erving Goffman davon aus, dass jede Gesellschaft über ein Repertoire von gesellschaftlichen Rollen verfügt, die historisch gewachsen sind und deren Beherrschung wesentlich beiträgt zum sozialen Status und zu den Zugangschancen, die junge Menschen in einer Gesellschaft haben. Ob jemand eine Chance erhält, hängt nicht nur von dem ab, was ein Mensch an Potential im Kopf hat und was er tatsächlich kann. Vor allem, wie er es rüberbringt und ob er das Vertrauen des Gegenübers gewinnen kann, einer Aufgabe wirklich gewachsen zu sein, entscheidet darüber, ob er die für die Lösung der Aufgabe notwendige Hilfe erhält oder ob ihm diese versagt wird. Auch wenn er „eine Chance“ bekommt, kann sein Scheitern durch das Ausbleiben notwendiger Hilfen für die Lösung der Aufgabe vorprogrammiert sein. Man kann das „Self fullfilling prophecy“ nennen. (Nicht umsonst wird beim Training für Vorstellungsgespräche bei Jobsuche die Form des Auftretens und der Selbstpräsentation geschult.)
Goffman schreibt: „In den meisten Gesellschaften scheint es ein allgemeines oder dominantes Schichtungssystem zu geben, und in den meisten Gesellschaften mit verschiedenen sozialen Schichten finden wir eine Idealisierung der oberen Ränge und einen gewisser Ehrgeiz der Menschen niederer Position, in höhere Ränge aufzusteigen. Wir stellen allgemein fest, dass zum sozialen Aufstieg angemessene Selbstdarstellungen gehören und dass die Bemühungen aufzusteigen, wie die Anstrengungen, nicht abzusteigen, sich in den Opfern, die zur Aufrechterhaltung der Fassade gebracht werden, manifestieren. Hat man einmal die angemessenen Bedeutungsträger (für höheren sozialen Status) erworben und sich mit ihrer Anwendung vertraut gemacht, so können sie die alltäglichen Selbstdarstellungen ausschmücken und in einem günstigen Licht erscheinen lassen.“
Dies ist schon für Menschen, die sich äußerlich nicht von den höheren sozialen Schichten unterscheiden, relativ kompliziert. Man denke daran, wie sich das Bildungsbürgertum im Deutschland des Wirtschaftswunders über die „Neureichen“ lustig machten.
Viel schwerer ist es für Menschen, die sich äußerlich, durch Hautfarbe und/oder andere Merkmale von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Selbst wenn sie hier geboren sind, die deutsche Staatsbürgerschaft haben und eine höhere gesellschaftliche Position errungen haben, wird dies meist nur im engeren Freundes-, Verwandten- und Bekanntenkreis akzeptiert. Von allen übrigen werden sie erst mal als Fremde angesehen. („Woher kommen sie denn?“ wird gefragt, wenn sich jemand interessiert und es gut meint. Bei anderen ruft fremdes Aussehen gleich Ablehnung und Aggression hervor)
Das setzt im Umkehrschluss mindestens drei Dinge voraus:
- Man lernt die Bedeutungsträger überhaupt kennen. Sprachliche Kompetenz ist z.B. ein solcher Bedeutungsträger, aber längst nicht der einzige. Fremdes Aussehen ist auch ein Bedeutungsträger, an dem ein Mensch nichts ändern kann und der umso mehr Bedeutung erhält, je mehr Vorurteile im Gegenüber verfestigt sind.
- Man hat den Willen, Opfer zu bringen. Das dürfte davon abhängen, ob man das Gefühl hat, dass sich diese Opfer lohnen, dass sie den gewünschten Erfolg bringen und dass man überhaupt eine Chance auf Erfolg hat.
- Man muss seine eigene Identität und sein Selbstwertgefühl nicht ganz aufgeben, weil dies der eignen Persönlichkeit die Existenzgrundlage entzieht und vom Gegenüber meist nur mit Geringschätzung oder gar Verachtung quittiert wird. („Überanpasser“ / „Schleimer“)
Die daraus resultierende Frage ist, wie lange man solche Opfer ohne Erfolge durchhalten kann und wie groß diese sein müssen in einer Schule, die auf Auslese beruht und in der es heftige Konkurrenz gibt, bei der Migranten meist hinten anstehen.
Laut Heitmeyer (in einem Interview der „Zeit“ vom 27.2.03) – haben die meisten deutschen Jugendlichen dadurch, dass sie allgemein akzeptierte kulturelle Norm- und Wertvorstellungen mit der Muttermilch aufsaugen und kennen lernen, wesentlich besser Startbedingungen als z.B. türkische. Das führt in vielen Fällen bei diesen zu Misserfolgen und – bei Akzeptanz der Bewertungsgrundlagen – zu Minderwertigkeitskomplexen.
„So entsteht für türkische Jugendliche ein strukturelles Defizit an Anerkennung.“ Daraus folgt eine „negative Anerkennungsbilanz… Jeder Mensch muss darauf achten, dass die Anerkennungsbilanz stimmt, damit sein Selbstbild positiv bleibt. Niemand kann auf Dauer mit mangelnder Anerkennung leben. Einige ziehen sich dann zurück, andere trinken Alkohol, Dritte werden gewalttätig.“ (Hier gibt es nach meiner Erfahrung geschlechtsspezifische Unterschiede: Die Mädchen ziehen sich eher zurück, Jungen reagieren eher aggressiv.)
Bei nicht vorhandener Akzeptanz der Bewertungsgrundlagen entsteht eine Ungerechtigkeitserfahrung mit Trotzreaktionen und Aggressionen. Ein Unrechtsbewusstsein wegen der Aggressionen ist häufig nicht zu spüren, denn es ist ja nur gerecht, wenn man sich gegen Ungerechtigkeit zur Wehr setzt. Hier finden heftige narzisstische Kränkungen statt, die durch Zurückweisung des Individuums, so wie es ist bzw. so wie es sich fühlt, hervorgerufen werden. Dadurch wird die Kultur der Mehrheit als feindlich und ungerecht empfunden, was schnell dazu führen kann, dass man sich auf die eigenen Wurzeln besinnt und diese idealisiert. (Dies könnte auch eine Ursache dafür sein, dass junge Männer der 3. Generation sich leichter für islamistische Ideologie oder gar Terrorgruppen gewinnen lassen, denn bei ihnen ist die Ungerechtigkeitserfahrung besonders groß: Sie sind hier geboren, „dürfen“ aber trotzdem nicht gleichberechtigt und akzeptiert dazugehören, jedenfalls nicht so, wie sie sind.)
Weitere wichtige Quelle für Anerkennung ist die Familie
Wenn es dauernd Probleme mit der Schule gibt, kann diese Quelle ebenfalls schnell versiegen. Oder die Anforderungen an das Rollenspiel von Seiten der Schule und der Familie sind so unterschiedlich, dass sie den Jugendlichen überfordern, wenn nicht zerreißen. Resultat ist das gleiche: Er bekommt – im Extremfall – sein Versagen gespiegelt.
übrig, wo die Jugendlichen sich auf Ihresgleichen beziehen, um den frustrierenden Konflikten aus dem Weg zu gehen, die in der Vergangenheit ohnehin keine Aussicht auf Erfolg gezeigt haben.“
Heitmeyer macht deutlich, dass dies kein ethnischen Problem ist sondern bei sozial Abgekoppelten ohne Chance einer Akzeptanz eine ganz normale Reaktion ist.
In dem Moment, wo man diese Chance nicht mehr sieht und sich mit Angehörige der eigenen Peergroup gemeinsam in einer Schulklasse befindet, wird es den betroffenen Jugendlichen kaum noch einsichtig sein, warum sie ihr Rollenverhalten umstellen sollten, bloß weil sie in der Schule sind. Dies umso eher, je festgelegter die Rollen der betroffenen Lehrer von Seiten der Schule und der Kultusbürokratie sind. Es ist sicher ein starkes Machtgefühl, die Lehrer wie Marionetten „tanzen“ zu lassen, denn ihre Reaktionen auf bestimmt Aktionen sind berechenbar.
So kann man beinahe von Krieg sprechen, der in solchen Klassen herrscht, denn die Lehrer „rächen sich“ auf ihre Weise und haben sicher den längeren Atem, wenn sie keine andere Möglichkeit mehr sehen, als die Schüler durch Missbilligungen, Strafen, Querversetzungen, Sitzenbleiben, Schulrausschmiss und schlechte Noten bis hin zum nicht gemachten Schulabschluss dabei zu unterstützen, sich ihre Zukunft nachhaltig zu versauen.
gegenüber stehen, vor allem wenn es vorher schon mehrfach solche Konferenzen gab und eine Besserung nicht eingetreten ist. Hinzu kommt, dass jeder Lehrer, der solche Konflikte hat, damit rechnen muss, dass seine pädagogischen Qualifikationen angezweifelt werden. Deshalb gibt es oft auch kein Interesse daran, sich Hilfe zu holen oder eine offene Diskussion um die Lage in ihrer Klasse zu führen. Syndrom, zu psychischer Krankheit oder im einfachsten Fall zu Verfestigung von Vorurteilen gegenüber bestimmten Personengruppen, die diese Vorurteile dann sehr schnell bestätigen. (s.o.)
Bei steigender Konkurrenz, wie wir sie momentan im hessischen Schulwesen vor allem durch Einführung von G8, zentrale Prüfungen und immer größere Klassen erleben, werden sich diese Mechanismen weiter verstärken, denn die Möglichkeiten der Lehrer, flexibel auf gegebene Situationen zu reagieren, werden durch immer neue Vorgaben immer weiter eingeschränkt. Zwar soll die Förderung der Sprachkompetenz in Kindertagesstätten (Vorschule) und Grundschule verstärkt werden. Individuelle Förderpläne sollen für gute wie für schlechte Schüler erstellt werden. Ganztagsschulen werden ausgebaut. Trotzdem werden sich, wenn sich weiter nichts ändert, die Migrantenkinder erneut ganz hinten in der Schlange wiederfinden. Der Ausbau der dezentralen Erziehungshilfe gewissermaßen als Feuerwehr, mit der Schulen in pädagogischen Einzelfällen unterstützt werden sollen, für die sie keine Möglichkeiten mehr haben, kann hier nur ein Tropfen auf den heißen Stein sein, denn Kinder, die kaum noch zu beschulen sind, sind längst keine Einzelfälle mehr! Da wirkt die Zuständigkeit von 2 bis 3 Schulpsychologen pro Landkreis wie ein schlechter Witz.
Wie groß die Möglichkeiten der Lehrer bei allen löblichen Anstrengungen sein dürfte, sich auf die besonderen Bedürfnisse und Probleme von Migrantenkindern einzulassen (soweit ihnen die Schule von ihrer Organisationsform dazu überhaupt die Chance gibt) lässt folgendes Fazit Heitmeyers erahnen: “Hinzu kommt, dass Anwesenheit von Migrantenkindern in der Klasse für die Lehrer eine Verschärfung ihrer Arbeitssituation durch höheren Aufwand und mehr Konflikte bedeutet.“ (Verständigungsprobleme mit den Eltern, Frage der Kleidung, des Sport-, Schwimm- und Sexualkundeunterrichts, Religion, Diszipilin usw.)
Drei Ebenen, auf denen Schule wirkt
Professor Radtke von der Uni Frankfurt macht drei Ebenen ausfindig, auf denen Schule wirkt und die einer empirischen Forschung in unterschiedlicher Weise zugänglich sind:
1. Die Ebene der öffentlich diskutierten Programme ( Ziele, Inhalte, Methodik, Didaktik, Erfolgs- und Selektionskriterien) ist für jeden nachvollziehbar, auch wenn längst nicht alles 1:1 umgesetzt wird und aus unterschiedlichen Perspektiven unterschiedliche Ergebnisse erwartet und prognostiziert werden. Gerade in der Bildungspolitik wird viel mit ideologischen Begriffen und Unterstellungen gearbeitet. Es gibt auch viele Modellversuche, die durchaus erfolgreich verlaufen und trotzdem aus parteipolitisch-ideologischen und/oder finanziellen Gründen nicht weiter verfolgt werden.
Radtke sieht nach vielen Schwankungen den heutigen Schwerpunkt in der Diskussion der Frage von Assimilation oder Interkulturalismus. „Eine andere, besonders in Deutschland bevorzugte Adaption des Multikulturalismus empfiehlt, ein Regime öffentlicher Toleranz gegenüber ethnischer Differenz einzurichten (Walzer 1998), das auf einer Trennung von öffentlicher und privater Sphäre besteht (vgl. Arendt 1967) und den Umgang mit (kultureller) Differenz auf der Basis von (rechtlicher) Gleichheit gewährleisten soll (Prengel 1993). Zur Toleranz gegenüber den „Anderen“ sollen, so erklärt sich die begriffliche Verschiebung von „Multi-“ zu „Interkulturelle Pädagogik“, von klein auf alle Kinder erzogen werden (Nieke 1995) – auch in Schulen, die keine oder wenige Kinder mit Migrationshintergrund aufgenommen haben….. In der Migrationssoziologie findet derzeit eine Kontroverse statt zwischen sogenannten Assimilationisten und Transnationalisten, in der um eine Antwort auf die Frage gerungen wird, ob weiterhin gilt, daß es zur Assimilation von Immigranten als Bedingung gelingender sozialer Integration keine Alternative gibt, oder ob unter den Bedingungen der post-nationalen Konstellation („Globalisierung“) von veränderten Migrationsmustern und eben transnationalen Strukturentwicklungen und Netzwerken ausgegangen werden muss, die dann auch revidierte politische und pädagogische Konsequenzen haben müssten.“ Dabei macht er deutlich, dass die Diskussion oft nicht viel mit der Wirklichkeit zu tun hat und dass es, ohne tatsächliche Änderungen der theoretischen und programmatischen Ansätze, oft um semantisch veränderte Problembeschreibungen und Lösungsansätze geht.
2. Hinter verschlossenen Klassentüren findet der praktische Unterricht als Interaktion zwischen Lehrern und Schülern mit dem offiziellen Ziel der Vermittlung von Wissen, Können und Werten (als erziehungswissenschaftliches Dunkelfeld, zu dem Forscher keinen Zugang haben) statt. Dabei geht Radtke davon aus, dass sich Ansätze der theoretischen Diskussion in der Praxis eher nur umsetzen ließen, wenn sie eine Erleichterung dieser Praxis und nicht eine weitere Belastung des Lehrpersonals bedeuten würden.
„Auf der Interaktionsebene haben es die Schulen mit konkreten Kindern zu tun. Als Organisationen, die funktional auf einen definierten Zweck ausgerichtet sind, interessieren sie sich nur für ein bestimmtes Segment der Merkmale der schulpflichtigen Kinder eines Jahrgangs, nämlich für die Frage, ob ein Kind die Mitgliedschaftsbedingungen erfüllt, die in der Schülerrolle schulstufen- und schulformspezifisch festgelegt sind: können die Kinder in dieser Schule und dieser Klasse lernen und erwartbar (durchschnittlich) erfolgreiche Schüler sein. Über die „Schulfähigkeit“ eines Kindes wird von der Schule selbst im Lichte ihrer Handlungsoptionen in einem formalisierten Schulaufnahmeverfahren bzw. der jährlich fälligen, ebenfalls hoch formalisierten Einstufung in ‚Klassen‘ (‚Versetzung’/‚freiwillige Wiederholung‘) bzw. der Überweisung auf andere, geeignetere Schulformen (‚Sonderschulüberweisungsverfahren‘) oder weiterführende Schulen befunden. Wenn die Schule Selektionsentscheidungen trifft, an denen immer mehrere Entscheider und damit auch mehrere Gesichtspunkte und Interessen beteiligt sind, entscheidet sie immer auch über die Lösung, d.h. die Verminderung ihrer eigenen Probleme.
Die Prüfung der Mitgliedschaftsbedingungen erfolgt für alle Kinder nach den gleichen Kriterien. Das gilt auch bezogen auf Migrantenkinder, welche Sprache sie auch sprechen, welchen ausländerrechtlichen Status sie haben oder welcher Herkunft auch immer sie sein mögen, zu welchem Zeitpunkt in ihrer Schulkarriere oder in einem Schuljahr (‚Seiteneinsteiger‘, vgl. Radtke 1996) sie in der Schule ankommen. Das Organisationspraxis der Klassifizierung der Kinder zielt auf die Bildung möglichst homogener Lerngruppen (Hinz 1993), in denen auf die herrschende Weise des (frontalen) Gesamtunterrichts alle Schüler gleichzeitig dem gleichen Lehrangebot ausgesetzt und ihre Lernleistungen miteinander verglichen werden können. Sprache bzw. Sprachkompetenz ist das entscheidende Mitgliedschaftskriterium und das entscheidende Kriterium der Zuordnung zu einer Klasse.“
Kinder, die sich nicht anpassen können und die in der Konkurrenz nicht bestehen, fallen durch das Leistungsraster. Wie viele das sind, hängt oft vom durchschnittlichen Leistungsstand in der Klasse ab. Das kann im Extremfall dazu führen, dass aus einer Klasse, die im 5. Schuljahr noch lebendig und interessiert war, bis zum 10. Schuljahr eine dumpf brütende Masse wird, die jeden Ansatz zu einem interessanten Unterricht im Keim erstickt. (Das ist nach 5 Jahren eingespielt und geschieht nonverbal, so dass der Lehrer gar nicht weiß, wo das herkommt.)
Kinder, die sich nicht anpassen wollen oder können, werden mit Sanktionen bestraft. Und hier setzt oft eine Eskalationsleiter ein, die mit dem nervlichen Zusammenbruch von Lehrern und dem Rausschmiss des Schülers aus der Schule enden kann. (s.o.)
Bei allen theoretischen Möglichkeiten, die Schule hat, um auf Herausforderungen zu reagieren, stellt Radtke die Beharrungskräfte fest: „Allerdings sind Schulen Teil einer nationalen Kultur der Selbstverständlichkeiten, die an den Lebensgewohnheiten der Mehrheit orientiert ist – man tut Dinge auf eine bestimmte Weise und zu bestimmten Zeiten. Dazu gehören neben der Mehrheitssprache als selbstverständlichem Medium der Kommunikation u.a. Kleidungs- und Essgewohnheiten, eine bestimmte Geschlechterordnung, öffentliche Feiertage, eine Ordnung des Verhältnisses zur Natur usw. Sofern Kinder und ihre Eltern von der Mehrheitskultur zu weit abweichen, aus traditionellen oder religiösen Gründen besondere Kleidungs- und Essgewohnheiten oder -vorschriften einhalten wollen, ihre je besonderen Vorstellungen über die Geschlechtsrollen nicht aufgeben oder sonst abweichende Verhaltensweisen zeigen oder auch nur befürchten lassen, steht die Schule wiederum vor der Frage, ob sie in ihrer Praxis darauf durch Differenzierung reagiert oder Anpassung verlangt und durchsetzt. Dies wird zu einem besonderen Problem angesichts der Furcht der Mehrheitsgesellschaft vor einer Politisierung des Islam auch in Deutschland. Aus einer Mischung aus Angst und mangelnder Information resultieren die allfälligen Konflikte etwa um die Teilnahme von muslimischen Mädchen am Biologie- oder Schwimmunterricht und an Klassenfahrten, die im „Kopftuchstreit“ (Karakasoglu-Aydin 1999) ihren symbolischen Ausdruck gefunden haben. Sehr schnell sind dann die Grenzen erreicht, an denen die auf der Programmebene der Interkulturellen Pädagogik propagierte Toleranz aufgekündigt und Fundamentalismusverdacht geäußert wird (Heitmeyer, Müller, Schröder 1997).“
3. Die Ebene der öffentlichen Darstellung der eigenen Praxis. Hier wird ein wichtiger Teil der schulischen Leistungen für Gesellschaft, nämlich Selektion und Zertifizierung von Schülerleistungen, nachträglich begründet und legitimiert. Der Legitimationsebene kommt die Darstellung und Begründung zu von „bereits gefallenen Entscheidungen und Nicht-Entscheidungen (!) – auch solchen, die gar nicht hätten vorkommen dürfen – (und denen) im nachhinein ein Sinn zugemessen wird, mit dem die Organisation ihren Rationalitäts- und Gerechtigkeitsanspruch behaupten kann. Die Frage ist, wie es der Organisation gelingt, organisationsspezifische Probleme und Ereignisse ex post so zu deuten, dass die Organisation so weitermachen kann.“
Letztendlich stehen auch diejenigen, die sich den Problemen stellen und sie lösen wollen, vor einem Paradoxon, wenn die Lösungsansätze nicht greifen. Radtke: „Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass von der guten Absicht der Interkulturellen Pädagogik genau jene Form der Ethnisierung und Kulturalisierung sozialer und pädagogischer Probleme bleibt, die als ungewollter Effekt der Einführung des Programms prognostiziert worden war. Wo bei ‚deutschen‘ Schulversagern auf deren häusliches Milieu und die daraus sich ergebenden psycho-sozialen Probleme verwiesen werden kann (‚veränderte Kindheit‘, ‚unvollständige Familie‘, ‚Armut‘ etc.), sind es bei Migrantenkindern sozio-kulturelle Konflikte (‚zwischen zwei Stühlen‘), die ihr Bildungsverhalten determinieren und die für die Organisation eigentlich unakzeptable Statistik, die das Ergebnis der eigenen Tätigkeit dokumentiert, akzeptabel machen sollen. Solche Erklärungen externalisieren die Ursachen und lassen die Praxis der Schule unbeobachtet.“
Anwesenheit von Migrantenkindern an unseren Schulen ist als „Zusatzbelastung“ durchgängig negativ besetzt
Frau Prof. Havva Engin von der PH Karlsruhe kritisiert die Berliner Bildungspolitik:
„Zwar bildete die Anwesenheit von Migrantenkindern im Berliner Bildungssystem in den 1990er Jahren ein Dauerthema, jedoch ein durchweg negativ besetztes. Die Existenz von Schülern unterschiedlicher kultureller, religiöser und sprachlicher Herkunft wurde nicht als Bereicherung empfunden, sondern als eine Belastung. Dementsprechend favorisierten die Berliner Bildungsverantwortlichen bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre an Schulen mit hohem Migrantenanteil schulische Modelle der unterrichtlich-organisatorischen Segregation wie die Ausländerregelklassen, obwohl Wissenschaftler deren integrationspädagogischen Nutzen längst bezweifelten und ihre Abschaffung forderten. Diese wurden zwar 1995 per Gesetz aufgelöst – doch nur auf der strukturell-organisatorischen Ebene. Faktisch wurden die Klassen mit der gleichen Schülerklientel beibehalten und hießen nun Regelklassen. Sie erhielten weder ein neues Sprachförderkonzept noch neue Rahmenpläne. An den institutionellen Rahmenbedingungen für die Ausbildung von Lehrkräften wurde im Land Berlin ebenfalls nichts verändert.“
Eine solche Segregation findet in Hessen – in den Hauptschulklassen – eher naturwüchsig statt. Dort treffen sich türkische Jungen, Aussiedlerjungen und deutsche Schülerinnen und Schüler aus den sogenannten bildungsfernen Schichten teilweise in einer Mischung, die Wissensvermittlung und Lernen schlichtweg unmöglich machen.
und diese Feststellung gilt z.T. auch für Hessen: bildungspolitisch umgegangen wurde. Sie erfuhren in den 1990er Jahren eine sukzessive Zurückdrängung auf einige wenige Schulstandorte und eine Reduktion als ein Angebot nur für Migrantenschüler mit Türkisch als Familiensprache. Ihre pädagogische Gleichbehandlung mit anderen fremdsprachlichen Unterrichtsangeboten war zu keinem Zeitpunkt gegeben und bildungspolitisch auch nicht erwünscht.
Die Thematisierung von kultureller Vielfalt und die Gleichbehandlung aller Kulturen im Sinne von interkulturell ausgerichteten Lehrplänen erfolgte in Berlin auf administrativer Ebene bis 1996 nicht. Erst mit Veröffentlichung der Kultusministerkonferenz (KMK)-Empfehlung „Interkulturelle Bildung und Erziehung“ kam eine erzwungene Zuwendung dem Thema gegenüber zustande, die jedoch von Berliner Bildungspolitikern in die Richtung gelenkt wurde, Interkulturelle Erziehung als Kompensationspädagogik zur sprachlichen Integration von Migrantenkindern zu instrumentalisieren, was nicht ein Ziel der Interkulturellen Erziehung darstellt.
Erst seit 2001 – auf massiven durch die PISA-Ergebnisse bedingten öffentlichen Druck – ist im Land Berlin die schulische Integration von Migrantenkindern zu einem zentralen bildungspolitischen Thema geworden. So liegt zwischenzeitlich eine Handreichung zur interkulturellen Ausrichtung verschiedener Unterrichtsfächer vor, ebenso ein Rahmenplan Deutsch als Zweitsprache sowie eine Jahreslehrgang für insgesamt 50 Grund- und Sekundarstufenlehrer in diesem Bereich.
Engin fordert:
„(Eine) grundlegende Neuausrichtung der schulisch-institutionellen Rahmenbedingungen ist notwendig.“
Für erste Aussagen über die positiven Auswirkungen dieser Maßnahmen auf den Schulerfolg von Migrantenkindern ist es noch zu früh. Auf jeden Fall stellen sie die ersten wichtigen Schritte in die richtige Richtung dar, denen ohne Zeitverlust weitere folgen müssen. Zu diesen gehört die Novellierung der universitären Ausbildungsverordnungen für Lehrer. Die Bereiche „Spracherwerb, Migrationsoziologie und gesellschaftlich-kulturelle Pluralität“ müssen zu obligatorischen und prüfungsrelevanten Studieninhalten werden. Darüber hinaus sind die Rahmen-/Lehrpläne entsprechend der zuvor genannten Inhalte zu ergänzen. Das wichtigste Ziel ist jedoch: Das deutsche Bildungs-/Schulsystem muss endlich von segregierenden und diskriminieren Maßnahmen wie der getrennten Beschulung oder der vorschnellen Zuweisung von Migrantenschülern in Sonderschulen wegkommen, damit der Begriff der Chancengleichheit künftig kein Lippenbekenntnis bleibt, sondern in der Praxis offensiv umgesetzt werden kann. Eine leistungsstarke und international wettbewerbsfähige deutsche Schule kann in Zukunft nur gelingen, wenn sie die Förderung aller Schüler, unabhängig der kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit, als Ziel formuliert.“ Hinzu kommt noch ein wichtiger Aspekt: Die besonderen Fähigkeiten von Schülern mit Migrationshintergrund müssen herausgefunden und gefördert werden, damit sie nicht in der dauernden Spiegelung von Defiziten ihr Selbstbewusstsein opfern müssen oder eben in die Opposition gedrängt werden. Sie müssen angenommen und akzeptiert werden, was eigentlich nur geht, wenn sie etwas geben können, was die Gesellschaft und ihre Organisationen auch wirklich haben wollen.
Innere Differenzierung fehlt / die organisatorische Einteilung ist nachteilig
Die heutige organisatorische Einteilung unserer Schulen in Jahrgangsklassen geht auch an den Bedürfnissen deutscher Schüler vorbei. Alle Schüler lernen zur gleichen Zeit das Selbe, egal wie ihre subjektiven Voraussetzungen auch sein mögen. Wer das nicht kann, wird aussortiert. Für innere Differenzierung ist kaum Platz, wenn sich 30 und mehr Schüler in einer Klasse befinden und einige davon besondere Zuwendung nötig haben (was regelmäßig der Fall ist: Hyperaktivität, LRS…). Zu Hause werden die Kinder als Individuen behandelt, die verhandeln und diskutieren können, in der Schule ist das eine Störung. Dort sollen sie quasi „im Gleichschritt“ marschieren und ihre Bedürfnisse hintanstellen – am besten nicht zu gut und nicht zu schlecht, unauffällig im Mittelfeld. Ist man schlecht, gibt es Druck von Lehrern und Eltern, ist man gut, gibt es Druck von Mitschülern. Wie soll da Phantasie und Eigenverantwortung gefördert werden?
Die Einteilung in Klassen ist ein historisches Relikt und einem Rationalisierungseffekt geschuldet: Ein Lehrer pro Stunde für 30 Schüler ist anders kaum möglich. Im Grunde handelt es sich bei unserer Schulorganisation um ein Überbleibsel der Industrieschule: Fließbandarbeit! Das führt auch dazu, dass der Wissensdrang und die Aufgeschlossenheit, die man bei 5.Klässlern noch rührend spüren kann, bis zum 10. Schuljahr mehr oder weniger totgeschlagen wird. Das hat etwas mit mangelnder Wertschätzung der nachwachsenden Generationen in unserer Gesellschaft zu tun, die sich in anderen Bereichen (Kinderarmut, Jugendarbeitslosigkeit…) zeigt und u.a. dazu führt, dass die Geburtenrate sinkt. Andere Länder (Finnland z.B.) gehen ganz anders mit dieser Frage um und haben wesentlich größere Erfolge, aus denen wir lernen können.
Aus all dem ergeben sich verschiedene Optionen, die vor allem im Bildungssystem als grundlegendem Verteiler sozialer Chancen über sprachliche und kulturelle Kompetenz, ansetzen müssten. Davon sind wir momentan noch meilenweit entfernt, aber Einsicht ist der erste Weg zur Besserung. Ein erster Schritt wäre, allgemein zu akzeptieren, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, dass die nichtdeutschen Einwohner Teil unserer Bevölkerung sind und dass es sich niemand leisten kann, diesen Bevölkerungsteil „auszusondern“ oder einfach nur „links liegen“ zu lassen.
Johannes Hartmann
Literatur:
(1) Erving Goffman: Wir alle spielen Theater, Piper, München 4. Auflage Juli 2006
(2) Interview von Roland Kirbach mit Prof. Wilhelm Heitmeyer in „Zeit“ vom 27.2.03
(3) Editorial: Transnationalismus und sprachliche Hybridität – Neue theoretische und empirische Herausforderungen für den pädagogischen Umgang mit „Ethnizität“ in der modernen Einwanderungsgesellschaft von Prof. Frank-Olaf Radtke (2005?)
(4) Schule und Migrantenkinder: Wo bleibt der institutionelle Wandel?
Migrantenschüler sind die hauptsächlichen Verlierer des deutschen Bildungssystems Dr. Havva Engin, 2003
Hier neue Untersuchungen (2014) zu den benachteiligenden Mechanismen der europäischen Bildungssysteme und positiven Strategien: http://www.migazin.de/2015/01/28/migration-bildung-ungleichheit-welche-bildungssysteme/
Und aus dem Mediendienst Migration Nov. 2020: Es geht auch anders