Die Gesundheitsversorgung von Flüchtlingen ist unzureichend. Mit dem Asylbewerberleistungsgesetz nimmt die Politik seit 1993 gesundheitliche Schäden von Menschen in Kauf. Hendrik Lammers kommentiert, warum das Gesetz abgeschafft werden muss.
Er überlebte nur knapp. Der eineinhalbjährige Dano wurde zwei Wochen in ein künstliches Koma versetzt, verlor einen Zeh sowie einen Finger. Hauttransplantationen wurden durchgeführt. Wie es dazu kam und wer dafür die Verantwortung trägt, wird nun vor dem Amtsgericht Fürth verhandelt. Als die Eltern ihren kleinen Sohn mit hohem Fieber von einem Krankenwagen zur Kinderärztin bringen lassen wollten, verweigerten Verwaltung und Wachdienst im bayerischen Flüchtlingsaufnahmelager Zirndorf die Zustimmung. Die Familie habe die zwei Kilometer bis zur Kinderärztin auch zu Fuß gehen können. Als Dano von der Kinderärztin untersucht wurde, schickte sie ihn sofort in ein Krankenhaus. Es stellte sich heraus, Dano hatte eine lebensgefährliche Meningokokken-Infektion, die schnellstmöglich hätte erkannt und behandelt werden müssen.
Gesundheitsversorgung nur bei Schmerz
Danos Familie bezieht Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Unter dieses fallen AsylbewerberInnen, Geduldete sowie Flüchtlinge mit bestimmten befristeten Aufenthaltserlaubnissen. Das heißt, dass Leistungen zur Gesundheitsversorgung nur bei akuten Erkrankungen und Schmerzzuständen übernommen werden (§4 AsylbLG). In der Praxis bedeutet dies häufig, dass eine ausreichende gesundheitliche Versorgung nicht gewährleistet ist. Es werden immer wieder Fälle bekannt, in welchen die Verweigerung einer angemessenen Behandlung ernsthafte gesundheitliche Beeinträchtigungen nach sich zieht. Flüchtlinge, die nach AsylbLG versorgt werden, unterliegen einem Gesetz, welches seit 1993 gilt und vom Bundesverfassungsgericht im Juli 2012 als verfassungswidrig eingestuft wurde. Der Gesetzgeber solle „unverzüglich“ handeln und dieses reformieren. Seitdem ist wenig passiert. Einige Monate nach der Entscheidung des höchsten deutschen Gerichtes aus Karlsruhe wurden die Leistungssätze nach AsylbLG den Sätzen von Arbeitslosengeld-II-EmpfängerInnen vorläufig angeglichen – bei der Gesundheitsversorgung bewegte sich aber nichts.
Es geht um Geld
Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition aus SPD und CDU/CSU sieht vor, dass das Gesetz überarbeitet werden soll. An eine Abschaffung des Gesetzes bzw. eine Angleichung an andere LeistungsempfängerInnen denkt die Regierung nicht. Es wurde bereits mehrfach deutlich gemacht, dass grundsätzlich an der „gruppenbezogenen Differenzierung“ festgehalten werden soll. Als Argument wird angeführt, dass ein Leistungsstandard wie bei ALG-II-EmpfängerInnen Pull-Effekte haben würde, also Flüchtlinge dazu bewege, nach Deutschland zu fliehen. Dass Flüchtlinge aufgrund von gravierenden Notsituationen ihr Herkunftsland verlassen und oftmals lebensgefährliche Wege hinter sich bringen, um Schutz zu finden, wird in dem Zusammenhang gerne verschwiegen. Letztlich geht es um Geld. Institutionelle Diskriminierung wird verbunden mit wirtschaftlicher Verwertbarkeit. Das zeigen die Debatten um die Aufteilung in für den Staat „verwertbare“ und nicht „verwertbare“ ZuwanderInnen, um angeblichen „Asylmissbrauch“ und angebliche „Asylfluten“. In diesem Kontext ist die Entstehung und Aufrechterhaltung des AsylbLG zu sehen.
Sozialamt verweigert häufig Kostenübernahme
Umgesetzt wird das Gesetz von den zuständigen Leistungsbehörden der Kommunen (in unserem Falle der Wetteraukreis, J.H.). Hier müssen sich Flüchtlinge, die sich noch im Asylverfahren befinden, einen Krankenschein holen. Ohne diesen können sie nicht ärztlich versorgt werden. Welche Konsequenz dies haben kann, verdeutlicht auch das Beispiel von Herrn A. Als dieser stark suizidgefährdet zu einer psychiatrischen Klinik gebracht wurde, kritisierten die Empfangsleitung und der leitende Oberarzt eindringlich, Herr A. könne sich nicht selbst einweisen. Er brauche eine Überweisung, denn sonst bliebe die Klinik wahrscheinlich auf den Kosten sitzen. Das Sozialamt verweigere häufig die Kostenübernahme für den stationären Aufenthalt. Als Begründung der Verwaltungskräfte des Sozialamtes würde in diesem Zusammenhang angeführt, die Behandlung wäre nicht notwendig oder der Ablauf zum Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht eingehalten. Zunächst müsse ein/e LeistungsempfängerIn einen Krankenschein vom Sozialamt (bei uns Fachstelle Migration) erhalten und dann eine ärztliche Überweisung erfolgen. Es ist absurd, dass Herr A. bei dem an dem Nachmittag geschlossenen Sozialamt einen Krankenschein für eine ärztliche Behandlung zur Verhinderung seines Suizids hätte abholen müssen. Doch es zeigt, welch menschenrechtswidriges Ausmaß die bürokratische Handhabung und gesetzlich verankerte Schlechterstellung von LeistungsempfängerInnen nach AsylbLG haben kann.
Da Herr A. sich selbst gefährdete und die Klinik die Notwendigkeit des stationären Aufenthalts feststellte, schickte sie ihn nicht weg. Doch falls die Kosten der Klinik nicht beglichen werden würde, könnte sie diese Herrn A. in Rechnung stellen.
Individuelles Versagen?
Wer ist verantwortlich? MedizinerInnen, JuristInnen, Beratungsstellen und Wohlfahrtsverbände verweisen zu Recht seit Jahren auf die Problematik bei der Kostenübernahme und der Definition von behandlungsbedürftigen Krankheiten. Die Sozialämter verweisen wiederum auf die Politik – auf die Gesetzgebung bzw. Rechtsprechung, hohe Kosten, geringen Ermessensspielraum bei Entscheidungen sowie fehlende personelle Ausstattung zur schnellen Sachbearbeitung. Aber auch die politisch Verantwortlichen können bei öffentlichen Klärungen berührender Fälle die Verantwortung von sich weisen. Nicht selten wird dann betroffen erklärt, es handele sich um ein individuelles Versagen der in dem jeweiligen Fall verantwortlichen Person/en. Im Fall Dano müssen sich die Bediensteten wegen unterlassener Hilfeleistung gerichtlich verantworten. Die Gesetzgebenden, denen die Bediensteten im Fall Dano fälschlicherweise Folge leisten wollten, werden sich kaum als mitverantwortlich bezeichnen.
Beispiele mit Vorbildcharakter
Für eine Änderung der Regelungen hätte die Bundesregierung hinreichende Argumente zur Verfügung. Und Vorschläge für Änderungen gibt es auch. Sie könnte das Asylbewerberleistungsgesetz abschaffen und eine Gleichstellung im Zuge der Versicherung über das Krankenversicherungssystem vornehmen. Neben der gebotenen Pflicht zur menschenwürdigen Versorgung wäre dies auch günstiger als die bürokratische Handhabung über die gesonderte Behandlung durch das AsylbLG.
Es gibt vereinzelte Beispiele mit Vorbildcharakter. In Bremen und Hamburg gibt es eigens entwickelte Modelle, nach denen Flüchtlinge mit einer Krankenversichertenkarte ausgestattet werden. Hier kommt es nicht zu komplizierten Abläufen, welche die schnelle Behandlung von akut behandlungsbedürftigen Krankheiten verzögern. Hamburg schätzt seine jährlichen Einsparungen durch die Ausstattung mit Krankenversichertenkarten auf 1,2 Mio. Euro. Dass eingespart wird, lässt sich leicht nachvollziehen. Schließlich wird Bürokratie abgebaut und hohe soziale Folgekosten durch die Behandlung von nicht frühzeitig behandelten, chronifizierten Krankheiten können vermieden werden.
Notlösungen auf Länder- und kommunaler Ebene
Auch das rot-grüne Bundesland Niedersachsen versicherte bereits, sich in Verhandlungen mit Krankenkassen zu einer Sonderregelung zu begeben. Und ebenso geht eine Kommune, die Stadt Rostock, mit gutem Beispiel voran. Auf Antrag und Nachdruck der Bürgerschaft sollen Flüchtlinge in der Stadt an der Ostsee nun Krankenversichertenkarten erhalten. Dazu Oberbürgermeister Methling im Dezember 2013: „Nach erneuter Prüfung der Rechtslage durch die Stadtverwaltung ergibt sich für mich kein Grund mehr, den Beschluss zu beanstanden. Ich werde mich mit Nachdruck dafür einsetzen, dass jeder Asylbewerber in Rostock diese Karte sehr schnell in seiner Hand hält.“
Solange die Bundesregierung ihrer Pflicht zur Neuregulierung des AsylbLG nicht nachkommt bzw. dieses nicht menschenwürdig gestaltet, hätten zumindest Bundesländer bzw. Kommunen die Möglichkeit, sich den bestehenden Positivbeispielen anzuschließen. Wäre dies in Bayern geschehen, wäre es bei Dano wahrscheinlich nicht zu der lebensbedrohlichen Situation gekommen.
Von Hendrik Lammers: Der Autor arbeitet bei IBIS – Interkulturelle Arbeitsstelle für Forschung, Dokumentation, Bildung und Beratung e.V. in Oldenburg. Seine Schwerpunkte sind Rechts-, Bildungs- und psychosoziale Beratung sowie die Betreuung von jungen Flüchtlingen. Zudem entwickelte und leitet er ein großes außerschulisches Bildungsprojekt für Kinder und Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Viele seiner KlientInnen werden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz versorgt, für dessen Abschaffung er sich einsetzt.
Quelle: http://www.migazin.de/2014/04/15/zweiklassenversorgung-mit-dramatischen-folgen/
Hier ein Link zu § 4 AsylbLG: https://beck-online.beck.de/default.aspx?vpath=bibdata%2fkomm%2fMuenderKoSGBXII_8%2fAsylbLG%2fcont%2fMuenderKoSGBXII.AsylbLG.p4.htm
Und hier: Vorstöße für eine Gesundheitskarte für Flüchtlinge: http://www.migazin.de/2015/03/23/cdu-gegen-bessere-gesundheitsleistungen-fuer-asylbewerber/
März 2015: http://www.migazin.de/2015/03/26/diakoniepraesident-fordert-gesundheitskarte-fuer-fluechtlinge/